Wie man sich selbst findet

Aus Die Erfüllung aller Wünsche - 7. Kapitel: Wie man sich selbst findet

 

Nur wenige Menschen finden sich selbst, ehe sie sterben.

Ralph Waldo Emerson.

 

Wichtig ist der größere, mächtigere Mann, der sich in dem kleinen Zwerge rührt, als den du dich fühlst.

 

Es gibt eine Sage, die erzählt, als Gott den Menschen für seine lange Entdeckungsreise durchs Leben ausstattete, wollte ein hilfreicher, guter Engel die Gabe vollkommener Zufriedenheit hinzufügen. Der Schöpfer aber hielt seine Hand zurück. „Nein!“ sagte er. „Durch dieses Geschenk würdest du ihn für immer der Freude der Selbstentdeckung berauben.“

 

Der größte Augenblick in jedem Menschenleben ist der der Selbstentdeckung, der Augenblick, der einem Menschen den ersten Strahl seiner göttlichen Kräfte aufleuchten lässt, der Augenblick, der ihm die Tür seines innersten Wesens öffnet und ihm seine gottähnlichen Möglichkeiten zeigt. Das größte Ereignis im Menschenleben ist das, das den Gott in ihm weckt.

 

Es ist eines der schwierigsten Dinge in der Welt, die Menschen dahin zu bringen, dass sie das Maß der in ihnen ruhenden Kräfte begreifen, dass sie an ihre eigene Größe, ihre eigenen Möglichkeiten glauben. Der Grund ist der, dass sie immer nur einen Teil ihrer selbst sehen, weil sie nur erst einen Teil von sich selbst entdeckt haben. In uns allen sind Hilfsquellen verborgen, von denen wir nichts ahnen. Wenn wir uns nur mit geistigen Röntgenstrahlen durchleuchten könnten, würden wir gewaltige Kräfte und Fähigkeiten unsres Innersten finden, wenn sie auch vielleicht noch nicht einmal den Keimzustand erreicht haben. Wahrscheinlich gibt es keinen Menschen, der nicht starr wäre vor Erstaunen, wenn er alle in ihm ruhenden Möglichkeiten vor sich ausgebreitet sehen könnte, wenn er nur einen Schimmer hätte von dem Menschen, der er sein könnte. Er würde wohl sagen: „Diese auffallende Befähigung zu großem Erfolg muss einem Menschen angehören, der es zu einer hervorragenden Stellung in der Welt gebracht hat, nicht einem unbekannten Menschen, wie ich es bin.“

 

Die ganze gewaltige Rieseneiche steckt in der kleinen Eichel, und unter den richtigen Bedingungen würde sich ihr Keim zu einer vollkommenen Eiche entwickeln. Sehen wir Eichengestrüpp, das doch auch aus einer gesunden Eichel aufgewachsen ist, so wissen wir, dass die richtigen Bedingungen gefehlt haben, dass sich nur ein kleiner Teil der Möglichkeiten, die in der Eichel steckten, entwickeln konnten.

 

In allem, was die Natur schafft, strebt sie Vollkommenheit an und möchte alle Möglichkeiten, die in dem Keim vorgebildet liegen, entwickeln. Das gilt von jedem Pflanzenkeim und noch viel mehr von jedem Menschenkind, das geboren wird. Was du bist, gilt nicht ein Tausendstel im Vergleich zu dem vollkommenen Menschen, dem möglichen Menschen, der in deinem Lebenskeime vorgebildet ist.

 

Nur selten einmal sehen wir einen Menschen, in dem sich tatsächlich alle Möglichkeiten, die in seinem Keim steckten, zur Vollkommenheit entwickelt haben, wie in einem Sokrates, einem Goethe. Die meisten von uns gleichen verkrüppeltem Gestrüpp statt hochgewachsenen Bäumen, und nur ein Mindestmaß der Möglichkeiten, die in unserm Keim verborgen waren, ist zum Ausdruck gelangt. Und dennoch glaube ich, dass die Zeit kommen wird, wo der Durchschnittsmensch größer sein wird, als das herrlichste Wesen, das die Menschheit bis jetzt jemals gezeitigt hat.

 

Größer als alle Pyramiden, als das Himalaja, als alle Wälder und Meere ist das menschliche Herz – es ist herrlicher als die Sonne und der Mond und alle Sterne, strahlender und blühender – es ist unendlich wie die Gottheit, es ist die Gottheit selbst.

Heine.

 

Was du fähig bist zu sein und zu leisten, das ist der große Vorrat deines Lebens, aus dem du schöpfen kannst. Was du tatsächlich leistest, ist vielleicht zwergenhaft im Vergleich mit den riesenhaften Leistungen, deren du fähig wärest. Nicht was du getan hast, sondern das, was du dich zu tun sehnst, wessen du dich fähig fühlst, ist es, was am höchsten zählt bei deinem Bemühen, dein Urbild der Vollkommenheit zu erreichen.

 

In deinem Innersten mögen gewaltige Kräfte schlafen, die noch niemals geweckt worden sind. Wer kann sagen, welche ungeschriebenen Bücher, die die Welt begeistern oder zum Nachdenken anregen würden, in deiner noch unentdeckten Vorratskammer schlummern? Unentwickelte Schönheit, die die Menschen entzücken würde, liegt vielleicht in dir verschlossen und wartet darauf, Ausdruck zu finden. Welche Wohlklänge mögen erstickt sein, weil die Saiten deines Innern schweigen. Welche Meisterhaftigkeit, welche Fähigkeit zu helfen, zu ermutigen, zu begeistern mag noch unenthüllt in dir ruhen!

 

Willst du an dieser Möglichkeit zweifeln? Viele Menschen haben länger als ein halbes Jahrhundert den Keim zu einem gewaltigen Genius in sich getragen, ohne das Geringste davon zu ahnen. Emerson sagt: „Wenige Menschen finden sich selbst, ehe sie sterben.“ Sehr wenige Menschen machen Entdeckungsreisen in ihrem eigenen Innern, und sie nehmen unentdeckte Weltteile von Anlagen und Talenten mit ins Grab; die meisten sterben, ohne ihre Hand, ihre Zunge, ihr Gehirn zu höchster Leistung gebracht und ohne die ihnen eigene besondere Anlage entwickelt zu haben. Die meisten von uns sterben und halten die versiegelte Botschaft, die ihnen der Schöpfer bei der Geburt mitgegeben hat, noch ungelesen in der Hand, weil sie nie zur Kenntnis gelangt sind, wie sie das Siegel zerbrechen und die Schrift lesen sollten.

 

Woher willst du denn wissen, frage ich, ob nicht dieselben Fähigkeiten, die du an den großen Männern bewunderst und für unerreichbar hältst, auch in dir verborgen ruhen? Wie willst du wissen, so lange du deine Kraft nicht versucht hast, was du zu leisten fähig bist? Vielleicht schlummern noch viel bedeutendere Anlagen in dir, als dir deine kühnsten Träume je gemalt haben. Warum schließest du deine Schatzkammer nicht auf und bringst die Fülle deines Besitzes ans Licht? Vielleicht ruht Größeres in dir, als die Größten, denen du nicht nachzueifern wagst, je vollbracht haben, und wartet nur auf dich, um zur Wirklichkeit zu werden.

 

Wenn wir wissen, dass auch die Erfolgreichsten unter uns nur einen verhältnismäßig kleinen Teil ihrer Anlagen und Fähigkeiten in Wirksamkeit bringen, weil sie niemals sich selbst vollständig entdecken, warum sollte irgendjemand unter uns seinen Möglichkeiten enge Grenzen stecken und ein Bettler des Erfolges bleiben, wenn er ein Fürst sein könnte?

 

Wir setzen uns unsre Grenzen selbst. Emerson sagt: „Die bekannte Fabel von dem Bettler, der, betrunken aus der Gosse aufgelesen, in das Haus des Herzogs getragen, gewaschen, gekleidet und in das Bett des Herzogs gelegt, und nach seinem Erwachen mit allen Förmlichkeiten als Herzog begrüßt und behandelt wurde, verdankt ihre Beliebtheit der Tatsache, dass sie so ausgezeichnet den Zustand des Menschen erläutert, der in dieser Welt auch eine Art von Bettler ist und nur von Zeit zu Zeit erwacht zu dem Bewusstsein, dass er tatsächlich ein Fürst ist.“

 

Die große Frage ist die, wie an die Kräfte in unserm Innern zu gelangen sei und wie sie am vorteilhaftesten in Tätigkeit gesetzt werden könnten. Denn der Erfolg oder der Misserfolg unsres Lebens hängt davon ab, in welcher Weise wir unsre Hilfsquellen fließen lassen, und wie weit wir alle unsre Möglichkeiten entwickeln.

 

Ich habe mich einst bemüht, einem jungen Mann Mut zuzusprechen, dem die Gelegenheit geboten war, sich selbständig zu machen, statt sein Leben lang in abhängiger Stellung zu bleiben. „Ich fürchte mich“, sagte er. „Ich habe den Mut nicht, das Wagnis auf mich zu nehmen. Ich habe immer für andre gearbeitet und habe nie selbständig Pläne gemacht oder die Verantwortung für etwas getragen. Ich wage nicht, es auf ein Misslingen ankommen zu lassen.“

 

Dieser junge Mann wird niemals auch nur die Hälfte der ihm zu Gebote stehenden Hilfsmittel in Tätigkeit bringen, weil er sich selbst nichts zutraut und nichts wagen will. Wir wissen nicht, wozu wir fähig sind, ehe wir es versucht haben, und ungenützte Fähigkeiten können nicht wachsen und zunehmen.

 

Der Jüngling, der ins Leben tritt, ist gar nicht fähig, die Fülle seiner Hilfsmittel zu kennen und zu überschauen. Die Art unserer Erziehung trägt nicht dazu bei, ihm die in ihm aufgespeicherten Möglichkeiten zu zeigen. Er sieht nur das, was auf der Oberfläche liegt, und wenn er nicht gelehrt worden ist, wie er tiefer schürfen könnte, wenn er nicht in die richtige Umgebung kommt, wenn er das Göttliche in sich nicht anruft, wird er vielleicht niemals den Menschen, der zu sein er fähig ist, zur Darstellung bringen. Selbstentdeckung heißt einfach, den Gott in uns finden, und das ist, wozu die Gedankenwelt des Neuen Denkens uns zu helfen bestrebt ist. Viele Menschen haben sich selbst niemals recht ins Gesicht geschaut, bis sie mit dieser neuen Gedankenwelt in Berührung gekommen sind. Das heißt, bis zu dieser Stunde hatten sie ihr bestes Teil gar nicht entdeckt. Bis dahin hatten sie ihr Leben aus ihrer Schwäche aufgebaut, anstatt aus ihrer Stärke. Die Möglichkeiten der geistigen Ausdehnung, der Erweiterung des Gesichtskreises, lebhafterer geistiger Regsamkeit, wachsender Leistungsfähigkeit – mit andern Worten, die Möglichkeiten der Selbstentdeckung in dieser neuen Gedankenwelt sind beinahe unglaublich.

 

In der alten Gedankenwelt sind die Anlagen und Fähigkeiten gefesselt und eingeschlossen; die Selbstbehauptung ist unterdrückt, man ist z. B. eingeschränkt durch religiöse Überzeugungen, während in der neuen Gedankenwelt Freiheit herrscht, eine Fülle der Selbstbehauptung, die das Gefühl verleiht, dass die ruhenden Kräfte entfesselt und befreit sind. Ich habe einen jungen Mann gekannt, dessen Fähigkeiten verdoppelt, ja vervierfacht erschienen, nachdem er begonnen hatte, die Lehren dieses Neuen Denkens zu üben. Vorher war dieser junge Mann durch Überlieferungen und Vorurteile, durch Glauben an Arzneien und allerlei Heilmittel so eingeengt gewesen, dass er keinen freien Gedanken fassen und auszudrücken vermochte. Er war in einer Sekte erzogen worden, die die Anhänger jedes andern Bekenntnisses für ewig verloren erklärte, war von Gedanken gequält, er könnte selbst einmal eine Sünde begehen, die nicht vergeben werde, und lebte in einer entsetzlichen Furcht vor dem Tode.

 

Das Neue Denken machte ihn zu einem neuen Menschen und tat eine neue Welt vor ihm auf. Was ihm in der Vergangenheit so wirklich und so unendlich wichtig erschienen war, ist ihm jetzt vollständig verblasst, und er sieht ein, dass nur das Gute wirklich ist. Er hat sich klar gemacht, wenn Gott alles ist, wenn es außer ihm keine Macht gibt, wenn er alles geschaffen hat, was ist, dass dann alles gut sein muss, und dass nur das Gute wirklich sein kann.

 

Dieser Grundsatz, zusammen mit der Erkenntnis von der Einheit allen Lebens, aller Dinge im Weltall hat die ganze Lebensansicht dieses jungen Mannes vollständig verändert, hat seinen gefesselten Fähigkeiten die Ketten abgenommen und ihm eine Freiheit des Ausdrucks gegeben, die er niemals für möglich gehalten hätte.

 

Die verschiedensten Wege sind möglich, auf denen wir uns selbst finden können; Kampf mit Schwierigkeiten, Enttäuschungen, Misserfolge, große Verantwortlichkeit, das alles ist schon das Mittel gewesen, Menschen zu sich selbst zurückzuführen. Der Bescheid: „Dankend abgelehnt“, oder eine vernichtende Beurteilung hat schon manchem Schriftsteller mittelbar die Pforte des Ruhmes geöffnet. Wäre seine erste schriftstellerische Arbeit angenommen, sein erstes Buch gelobt worden, so wäre vielleicht ein ganz anderer Schriftsteller aus ihm geworden.

 

Die gewaltigsten der schlummernden Möglichkeiten liegen in manchen Naturen so tief begraben, dass es des Anstoßes durch ein entsetzliches Unglück oder eine schwere Not des Vaterlandes bedarf, um sie zu wecken und in Tätigkeit zu bringen. Irgendein gewöhnliches Ereignis genügt nicht, sie müssen bis ins Innerste ihres Wesens erschüttert und ihnen jeder andere Halt entzogen werden. Sie müssen fühlen, dass sie keine andre Stütze mehr haben, als die Schöpferkraft in ihnen selbst – den Gott, der sie geschaffen hat. So lange kein Weckruf an ihr innerstes Innere gegangen ist, sind ihnen ihre eigenen Hilfsquellen verschlossen. Andererseits hat sich schon so mancher herrliche Erfolg aus der Asche eines verbrannten Glückes oder dem Schutte eingestürzter Hoffnungen siegreich erhoben. Gleich den Pflanzen, die zerquetscht werden müssen, um ihren süßesten Wohlgeruch auszuhauchen oder ihre Heilkraft zu entwickeln, lassen manche Menschen das Süßeste in ihnen erst erkennen, wenn ein schwerer Kummer sie niederdrückt. Sie bringen ein halbes Leben zu uns sind sich des Reichtums, der in ihnen verschüttet liegt, mehr oder weniger unbewusst, bis ein großer Kummer, irgendein überwältigendes Unglück eine Fülle von Persönlichkeit zutage fördert und eine Kraft, die selbst ihre besten Freunde niemals bei ihnen zu finden geträumt hätten. Dann haben sie vielleicht in wenigen Jahren nach der Entdeckung ihrer selbst das nachgeholt, was sie vorher in einer halben Lebenszeit versäumt hatten.

 

Wenn wir von allen Menschen, die etwas Bedeutendes in der Welt geleistet haben, einen Bericht bekommen könnten, wie ihr Ehrgeiz geweckt worden ist, durch welchen Umstand in ihrem Leben – Buch, Vortrag, Predigt, Zuspruch, Schicksalsschlag, Misserfolg, Unglücksfall – welch wunderbare Hilfe wäre das für alle, die sich mühen im Leben und sich bewusst sind, dass Kräfte in ihnen verborgen liegen, die noch nicht geweckt sind und an die sie nicht zu gelangen wissen.

 

Wer ein Buch zu schreiben vermöchte, das es den Menschen ermöglichte, an die Fülle ihres unbenutzten Reichtums zu gelangen, würde der Menschheit einen unschätzbaren Dienst leisten.

 

Es ist eine merkwürdige Tatsache, dass die meisten Menschen nicht nur ihr Vergnügen, sondern auch ihre eigenen persönlichen Hilfsquellen außerhalb ihrer selbst suchen. Sie beklagen sich, dass sie niemand hätten, der ihnen helfe, dass ihnen die gute Gelegenheit fehle, die sich so vielen andern biete, und entschuldigen ihre Misserfolge oder unbedeutenden Erfolge damit, und sie haben doch in sich selbst verschlossen eine Fülle des unschätzbarsten Reichtums, den sie nur noch nie entdeckt und genützt haben.

 

Ein Grund, warum so viele Söhne und Töchter reicher Leute so wenig von sich selbst entdecken ist der: Sie gehen gleichgültig durchs Leben und nehmen die großen in ihnen ruhenden Möglichkeiten unentwickelt mit ins Grab, weil sie nie einen besonders Grund hatten, sich anzustrengen, anscheinend kaum eine Notwendigkeit, nur auch die Kräfte, die an der Oberfläche lagen, ins Spiel zu bringen.

 

Kein ererbter Reichtum kann einem Menschen dazu verhelfen, die größeren Möglichkeiten in sich zu enthüllen. Das kann kein Vater für seinen Sohn tun; nur durch eigene Anstrengung ist es möglich. Wer sich jemals in der Welt ausgezeichnet, wer je etwas Bedeutendes geleistet hat, der hat auch die Hilfsquellen dazu in sich selbst entdeckt.

Die Nötigung, sich anzustrengen, hat schon manchen Mann berühmt gemacht, hat ihn dazu getrieben, zur Erhebung der Menschheit, zum Fortschritt der Welt beizutragen, der ohne diesen unschätzbaren Sporn ein verhältnismäßig unnützes Glied der menschlichen Gesellschaft geblieben wäre.

 

Es ist ein höchst unheilvolles Ding für einen Menschen, wenn er gehätschelt und gepflegt wird, bis er Gewohnheiten angenommen hat, die es sehr unwahrscheinlich machen, dass er sich jemals genügend anstrengen werde, um zur Entdeckung seiner selbst zu gelangen.

Eine Frau setzte ihrem Mann auseinander, warum das Brot schlecht sei und sagte: „In diesem Brot ist so gutes Mehl als in irgendeinem andern, das ich jemals gebacken habe; man kann es aber nicht essen, weil nicht genügend Sauerteig darin ist. Es ist nicht aufgegangen.“ Genau dasselbe ist der Fall mit vielen jungen Leuten, die mit den besten Anlagen ausgestattet sind. Es ist nicht genug „Trieb“ in ihnen, es mangelt ihnen der Sauerteig eines göttlichen Ehrgeizes, so dass sie sich nicht anstrengen mögen, ihre höchsten Kräfte zu entdecken und zu entwickeln.

 

„Ein großer Meister ist, wer dir hilft, dich selbst zu finden“, sagt Dr. Frank Crane. „Nur die andern finden dich.“

 

Es gibt eine Menge von Dingen, die uns zu unsrer Selbstentdeckung behilflich sind. Den Geist in bejahender, schöpferischer Verfassung und den Körper stets auf der Höhe in vollkommener Gesundheit erhalten; im geistigen Gleichgewicht, immer heiteren und glücklichen Gemütes sein, indem man sich von Angst und Gram und Sorge freihält – dies alles trägt wesentlich zur Selbstentdeckung bei. Und hinter all diesem steckt kein Geheimnis. Selbstvertrauen ist ein mächtiger Selbstentdecker. Misstrauen, Selbstunterschätzung verschließt die Pforte, die zu den verschlossenen inneren Fähigkeiten und Kräften führt, der Glaube dagegen öffnet sie und macht die Eingeschlossenen frei.

 

Suche eifrig jede mögliche Erfahrung, die geeignet scheint, deine Natur zu erschließen und neue Kräfte ins Spiel zu bringen. Zum Beispiel Musikfreunde, die einer herrlichen Stimme, einer schönen Musikaufführung in Konzert oder Theater lauschen, haben zuweilen die Empfindung, als sei in ihrem Innern etwas freigelassen, das seither verschlossen gewesen war, etwas, von dem sie nie so recht gewusst hatten, dass sie es überhaupt besaßen. Zuweilen hat ein Schauspiel, ein Buch denselben Einfluss, und unser inneres Gedankenbild wird durch solche Erfahrungen immer mehr erweitert und erhoben.

 

In einem jungen Mann schlummern vielleicht große künstlerische Kräfte irgendeiner Art, aber er hat immer auf dem Land gelebt und ist niemals in Berührung mit Musikern oder bildenden Künstlern gekommen, hat nie eine mit Kunst gesättigte Luft geatmet. Er hat zum Beispiel niemals andre Musik gehört als den Chor seiner kleinen Dorfkirche und hat darum keine Ahnung von den in ihm schlummernden musikalischen Anlagen und Kräften, bis er in die Stadt kommt. Hier hört er berühmte Musiker, große Sänger in Konzert und Theater, und seiner Natur ist eine neue Bahn geöffnet, eine neue Leidenschaft ist in ihm geweckt, die ihn weit weg führt von dem, was er seither erstrebt hat, und er fasst ganz neue Pläne für seinen künftigen Lebensberuf. Er hat eine neue Kraft in sich entdeckt, die von nun an die beherrschende in seinem Leben sein wird.

 

Ein Sohn denkt vielleicht gar nichts andres, als in das Geschäft seines Vaters einzutreten, und hört nur zuvor noch einige Vorlesungen an der Universität. Aber durch diese Studien, durch den Einfluss seiner Lehrer wird sein geistiger Gesichtskreis immer mehr erweitert, neue Quellen fließen in ihm, und er macht Entdeckungen in seinem Innern, die nun sein Lebensziel vollständig verändern.

 

Manche Eltern wundern sich und sind bekümmert über ihre Söhne, weil diese ihren Lebensplan immer wieder wechseln. Der Grund dafür liegt häufig darin, dass durch die Erziehung in ihnen immer neue Kräfte erschlossen, neue Möglichkeiten geweckt werden, und dadurch ihr Streben und ihre Lebensziele sich ändern.

 

Ein großer Vorzug guter Erziehung und ausgebreiteter Erfahrung ist es, dass sie uns dazu helfen, immer mehr von unsern verborgenen Kräften zu enthüllen. Diese scheinen überhaupt unerschöpflich zu sein, denn wie viele Entdeckungen wir auch in uns selbst machen mögen, so scheint sich der Vorrat doch nie zu vermindern.

 

Viele Menschen gehen durchs Leben, ohne dass sich ihre Natur richtig entfaltet, weil sie nicht die Gelegenheit zur Förderung ihres inneren Wachstums aufsuchen. Sie geben sich nicht genügend Mühe, in eine den Ehrgeiz erweckende, ihr inneres Gedankenbild erhebende Umgebung zu kommen.

 

Kürzlich war einmal meine Uhr stehen geblieben, und die Zeiger standen am Morgen noch genau so, wie sie gestanden hatten, als ich sie den Abend vorher aufzog. Ich nahm die Uhr in die Hand, aber sie wollte nicht gehen. Da schüttelte ich sie kräftig, und siehe da, sofort fing sie an zu ticken und blieb nicht mehr stehen, bis die Feder abgelaufen war. Die Kraft, die Uhr in Bewegung zu erhalten, war die ganze Zeit über in ihr gewesen, aber sie brauchte einen Stoß, um in Tätigkeit zu treten.

 

So habe ich schon manche junge Menschen kennen gelernt, die seelisch und geistig stillzustehen scheinen; man hätte meinen können, es fehle ihrem Innern die Dampfmaschine, ihren Geist richtig in Bewegung zu setzen. Und während ich noch darüber nachsann, was sie wohl aufrütteln könnte, starb etwa ihr Vater, von dem sie abhängig waren, oder sie wurden von irgendeinem anderen Unglück getroffen. Dieser Stoß setzte die Maschine ihres Geistes in Bewegung, und plötzlich entwickelten sie eine erstaunliche Tatkraft und Entschlussfähigkeit, die niemand hinter ihnen erwartet hätte.

 

Andre habe ich gesehen, denen ihr Lebensweg so leicht und eben gemacht war, dass sie niemals den richtigen Anstoß erhielten, der ihre geistige Dampfmaschine in Bewegung gesetzt hätte, und sie gingen durchs Leben mit der ungenützten Kraft fest in sich verschlossen.

 

Überall sehen wir junge Menschen, die zu einem seelischen und geistigen Stillstand gekommen sind. Sie schreiten in der Selbstentdeckung nicht weiter fort; sie haben aufgehört zu wachsen.

 

Wer sich Mühe gibt, das Beste aus seinem Leben herauszuholen, hört in seinem Wachstum nie auf. Solche Menschen sind immer auf dem Weg, denn ihr Ziel steckt sich immer weiter, wie ihre eigene Entwicklung größer, weiter und leistungsfähiger wird. Sie machen nur von Zeit zu Zeit bei irgendeinem Lebensabschnitt einen kleinen Halt, um einiges abzulegen, das sie nicht mehr nötig haben, das ihnen lästig ist, und setzen dann ihren Weg fort. Dies ist die richtige Art, durchs Leben zu gehen.

 

Wenn du zu deinen verborgenen Hilfsquellen gelangen, deine Kräfte und dein inneres Wachstum steigern möchtest, musst du immer an deiner Veredelung arbeiten, deinen Verstand durch schärfere und genauere Beobachtung mehren, durch eingehendes Studium von Menschen und Dingen, durch Erweitern deines geistigen Gesichtskreises, durch Abkehr von aller Selbstsucht und Steigerung deiner Dienstwilligkeit und Hilfsbereitschaft.

 

Das Lesen der großen, bedeutenden Bücher der Welt – der Bibel, von Plato, Dante, Shakespeare, Goethe, Kant, der Lebensgeschichte bedeutender Männer und Frauen, und die Genossenschaft mit edlen Seelen sind für junge Leute eine bedeutende Hilfe auf ihrem Weg zur Selbstentdeckung. Ich kenne kein andres dafür so geeignetes Mittel, als es das Lesen eines erhebenden Buches ist, und es ist eine große Sache, solche Bücher immer in der Nähe zu haben, denn die Urbilder in unserm Innern werden schwach und nebelhaft ohne die richtige geistige Nahrung. Auch die Worte eines bedeutenden Redners vermögen uns bis ins Innerste zu erschüttern und neue Triebe, neue Kräfte und Entschlüsse in Seelen zu wecken, die bis dahin geschlafen hatten, was das Kennen und Nutzbarmachen ihrer inneren Kräfte betrifft. Vielleicht hast du auch schon eine ähnliche Erfahrung gemacht bei einer Predigt oder einem Vortrag, wobei sich dir eine neue Welt zu erschließen schien und du einen Einblick gewannst in Gebiete deiner Natur, die dir sonst vielleicht immer verborgen geblieben wären.

 

„Der Mensch wächst im Verhältnis, wie er sich selbst und seine Fähigkeiten kennenlernt.“ Je höher wir alle unsre Fähigkeiten entwickeln, je tiefer wir aus unsern Hilfsquellen schöpfen, je mehr wir von unserm verborgenen Selbst entdecken, umso weiter wird unsre Ausschau. Das Leben wird zu einem immerwährenden Fortschritt.

 

Es war ein weiter Weg der Entwicklung durch die Jahrhunderte vom Tier zum Menschen, und auf diesem Weg haben wir wunderbare Kräfte entwickelt und Hilfsquellen zum Fließen gebracht, von denen sich unsre ältesten Vorfahren nichts träumen ließen. Allein der gesittete Mensch ist von seiner endgültigen Bestimmung, vom Gipfel seines Aufstieges jetzt noch viel weiter entfernt, als von dem rohen Wilden früherer Zeiten.

 

Garret P. Servis sagt: „Das menschliche Gehirn befindet sich noch im Zustand der Kindheit, und da wir uns dessen bewusst sind, haben wir guten Grund zu hoffen, wir werden in Zukunft nicht nur wissen, dass die Erde voll von Kräften ist, sondern uns diese Kräfte auch dienstbar zu machen verstehen.“

 

Der weiseste Gedanke der sieben Weisen von Griechenland war in den drei Worten ausgesprochen, die über dem Eingang des großen Tempels von Delphi standen: „Erkenne dich selbst!“

 

„Erkenne dich selbst!“ Dies ist die Hauptaufgabe des Menschen, sich selbst zu erkennen und die Kraft zu erfassen, die sein ist durch sein untrennbares Einssein mit seinem Schöpfer.

 

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