Selbstständigkeit

Aus Was dir gegeben, bring es zum Leben! - 16. Kapitel: Selbständigkeit

 

Die Notwendigkeit ist die Mutter aller Erfindungen.

Nur wer auf eigenen Füßen steht, nur der stellt seinen Mann im Kampf des Lebens.


Jeder körperlich und geistig gesunde Mensch ist imstande, unabhängig und selbständig zu werden, und trotzdem gibt es verhältnismäßig wenig Menschen, die so weit kommen. Es ist so viel leichter und bequemer, sich an andere anzulehnen, andern nachzufolgen, andere für sich denken zu lassen. Es ist ein großer Fehler, den aber viele Leute begehen: wenn sie nicht ganz hervorragende Talente haben, so halten sie es nicht mehr für der Mühe wert, aus ihrer bescheidenen Veranlagung so viel als möglich zu machen.

 

Wenn du nicht ein geborener Leiter und Anführer bist, so brauchst du nicht zu glauben, du seiest nun zu ewiger Abhängigkeit bestimmt. Du weißt nicht, welche Möglichkeiten und Kräfte in dir schlummern. Das zeigt sich erst, wenn du auf die richtige Probe gestellt wirst. Mancher hat sich im gegebenen Augenblick als trefflicher Führer bewährt, bei dem es erst gar nicht so aussah, als ob er viel Anlage zur Selbständigkeit hätte.

 

Wer zum Anführer geboren ist, der ahmt nicht andere nach, er richtet sich nicht nach der Mehrzahl, er denkt selbst, er wirkt schöpferisch, das heißt, er hat eigene Gedanken und führt sie selbständig aus. Es gibt freilich wenige Menschen, von denen man das sagen kann. Von den meisten muss man sagen, sie helfen einfach die Bevölkerungszahlen erhöhen, sie sind nur je einer aus der Masse, oder wie das Sprichwort sagt: es gehen von ihnen zwölf auf ein Dutzend. Die meisten Menschen sind unselbständig. Sie verlassen sich auf das Geld, das sie geerbt haben, oder auf ihre Freunde, auf ihren Stammbaum oder ihre gesellschaftliche Stellung; nur selten sieht man einmal einen, der wirklich auf eigenen Füßen steht und aus eigener Kraft durchs Leben geht.

 

Oft empfinden wir noch im späteren Leben Groll gegen die Menschen, die uns von sich abhängig sein ließen und so um unsere Selbständigkeit brachten. Ein Kind ist nicht zufrieden, wenn ihm der Vater zeigt, wie man etwas macht; man muss aber die freudige Aufregung sehen, wenn es ihm gelungen ist, es selbst zu machen. Dieses neue Gefühl eines Sieges gibt ihm eine Kraft, die sein Selbstvertrauen stärkt.

 

Die Schule verleiht und entwickelt keine praktischen Fähigkeiten; sie gibt dem Einzelnen nur Werkzeuge in die Hand, deren Anwendung und Gebrauch er nun im tätigen Leben selber erlernen muss. Der größte Dienst aber, dass sie ihn dazu erzieht, sich auf sich selbst zu verlassen und Zutrauen zu seinen eigenen Fähigkeiten zu gewinnen. Wer nicht schon in der Jugend damit beginnt, sich unabhängig von fremder Hilfe zu machen, der bleibt auch als Mann ein Schwächling ohne Erfolg. Denn es ist eine der größten Täuschungen, denen ein Mensch sich hingeben kann, wenn er sich einbildet, es werde ihm immer so gut gehen, dass andere ihm helfen und ihn unterstützen.

 

Das Ziel jedes edlen Ehrgeizes ist, selber stark zu werden; wer beständig nach andern sieht oder sich auf andere verlässt, der bleibt immer schwach. Unsere Stärke kann nur von uns selbst erzeugt und entwickelt werden. Wir werden nicht dadurch stärker, dass wir etwa in einer Turnhalle sitzen und andere für uns turnen lassen. Die Fähigkeit, allein zu stehen und selbständig zu sein, wird durch nichts so sicher vernichtet als dadurch, dass wir uns auf andere und ihre Unterstützung verlassen. Wir müssen selbständig werden, sonst können wir jeden Ehrgeiz, einmal irgendetwas in der Welt vorzustellen, nur gleich begraben.

 

So viele Menschen bemühen sich, ihren Kindern einen leichteren Aufstieg im Leben zu ermöglichen, als sie ihn selbst gehabt haben, aber oft bringen sie ihnen, ohne es zu wissen, mit diesen Bemühungen nur Unglück; denn statt sie schneller vorwärts kommen zu lassen, hindern sie sie geradezu am Vorwärtskommen. Junge Leute brauchen so viel Antrieb wie möglich. Sie neigen von Natur dazu, sich an andere anzuschließen und andere nachzuahmen, und die Gefahr liegt nahe, dass sie über das unselbständige Nachahmen nie hinauskommen. Wenn man ihnen Krücken gibt, so lernen sie niemals allein gehen.

 

Wirkliche Kraft entwickelt sich nur bei dem, der sich auf sich selbst verlässt und sich selber hilft, niemals bei dem, der durch Gunst oder Einfluss emporkommt und sich an andere anlehnt. Emerson sagt: „Wer auf dem weichen Kissen der Unterstützung durch andere sitzt, der schläft bald ein.“

 

Wenig Dinge sind so peinlich anzusehen wie ein junger Mann mit gesundem Körper, breiten Schultern und anderthalb Zentner Fleisch, der mit den Händen in der Tasche dasteht und wartet, bis ihm jemand helfe.

 

Hast du schon einmal darüber nachgedacht, wie viele von deinen Bekannten eigentlich immer auf etwas warten, vielleicht ohne dass sie selber genau sagen könnten, auf was sie warten? Sie sind wie das Büblein in dem Kindergedicht von Rückert: Ob nicht was käme und mich mitnähme.

 

Irgendein glücklicher Zufall soll eintreten, eine Verkettung von Ereignissen, die ihnen ermöglichen, ohne eigene Anstrengung vorwärts zu kommen.

 

Meine Erfahrung hat mir aber bis jetzt immer die Regel bestätigt, dass die Menschen, die so auf fremde Hilfe warten, niemals viel taugen.

 

Wer seine Krücken wegwirft, wer die Brücken hinter sich abbricht und sich nur auf sich selbst verlässt, der allein gewinnt. Selbständigkeit ist der Schlüssel zum Tor des Erfolgs, weil sie eigene Kraft entwickelt. Die Gewohnheit, von anderen Hilfe zu erwarten, zerstört dagegen das Selbstvertrauen, das doch die Grundlage für jeden Erfolg bildet.

 

Ein Mann, der an der Spitze eines großen Geschäftes steht, sagte mir neulich, er werde seinen Sohn in ein anderes Geschäft tun, wo er als vollständig Fremder behandelt werde; wenn er in seinem eigenen Geschäft anfange, so würde er gewiss allerhand Vergünstigungen vom Vater erwarten. Es ist in der Tat sehr gefährlich für einen jungen Mann, so anzufangen dass er immer seinen Vater hinter sich hat. In seichtem Wasser, wo man sicher ist, immer Grund zu finden, ist es schwer, schwimmen zu lernen; das geht viel leichter und schneller, wo einem das Wasser bis über den Kopf geht und man nur zwischen Schwimmen und Untersinken die Wahl hat. Es ist eben menschlich, sich so lang auf Hilfe zu verlassen, als man kann, und das, was man zu tun hat, erst dann zu tun, wenn man muss. Das Wort Lessings im Nathan: „Kein Mensch muss müssen“, darf man geradezu umkehren und sagen: Der Mensch muss müssen, vorher leistet er sein Bestes nicht. Daher kommt es auch, dass junge Leute, die zu Hause wenig oder nichts leisteten, sich oft ganz fabelhaft entwickeln, sobald sie auf sich selbst gestellt sind und einfach etwas leisten müssen.

 

In dem Augenblick, da du aufhörst, dich auf andere zu verlassen und selbständig zu handeln, tust du den ersten Schritt zum Erfolg; in dem Augenblick, da du alle fremde Unterstützung über Bord wirfst, fängst du an, Kräfte zu entwickeln, deren Besitz du vorher nie geahnt hattest. Nichts ist so wertvoll für dich als Selbstachtung; die kannst du aber nicht haben und behalten, wenn du von einem Menschen zum andern läufst, um dir helfen zu lassen. Diese Hilfe erscheint dir vielleicht als ein Segen, aber sie ist meist ein Fluch, weil sie dich schwächer macht. Wer dir Geld gibt, der ist nicht dein bester Freund; das ist vielmehr der, der dich antreibt und, wenn er kann, zwingt, dich nur auf dich selbst zu verlassen und dir selber zu helfen.

 

Wer von andern abhängt, der kann sich nicht als ganzer Mann fühlen. Erst die eigene Verantwortlichkeit zeigt, was du leisten kannst. So mancher merkt zum ersten Mal, was er eigentlich wert ist, wenn er selbständig im Geschäft oder Amt steht, während er all die Jahre vorher, da er in unselbständiger Stellung arbeitete, sich noch gar nicht recht kannte.

 

So lange einer für andere arbeitet, ist es ihm unmöglich, alle Kräfte vollkommen zu entfalten; bei aller Gewissenhaftigkeit und Pflichttreue fehlt ihm doch der letzte Ansporn, alles das herauszuholen, was Gott in ihn gelegt hat. Das beste am Menschen ist das, was selbständig und ursprünglich an ihm ist, und so lange das menschliche Wesen bleibt, wie es ist, kann dies in fremdem Dienst nicht vollkommen zu Tage treten.

Ein Schiff auf spiegelglatter See zu steuern, ist nicht schwer und man braucht kein hervorragender Seemann zu sein, um es zu können. Aber wenn der Sturm das Meer aufwühlt, wenn das Schiff sich Bahn brechen muss durch Wellen, die es zu verschlingen drohen, wenn alles den Kopf verliert und die Mannschaft nicht mehr recht gehorchen will – da zeigt der Kapitän, ob er ein rechter Seemann ist oder nicht.

 

Erst wenn alle Fähigkeiten und Kräfte bis zum Äußersten angestrengt werden, erst da zeigt sich die rechte Kraft. Ohne Kampf gibt es keine Entwicklung und kein Wachstum.

 

Wie kann ein junger Mann Selbständigkeit und männliche Unabhängigkeit lernen, solange er jemand hat, der ihm die schwerste Arbeit und Verantwortung abnimmt? Wenn ein Mensch dagegen in die Lage kommt, sich ganz und gar nur noch auf eigene Hilfe verlassen zu müssen, wenn jede Möglichkeit fremder Unterstützung schwindet, dann erst wird das Letzte aus ihm herausgeholt, ganz wie eine große Not oder ein Unglücksfall, wie etwa eine Feuersbrunst oder dergleichen, in einem der Gefährdeten ungeahnte Kräfte wecken kann.

 

Der Mensch hat sich nirgends sehr weit über das Tier erhoben, wo er nicht aufs schärfste um sein Dasein zu kämpfen hatte. Die Notwendigkeit war nicht bloß die Mutter der Erfindungen, sondern sie hat auch die ganze Entwicklung des Menschengeschlechts vorwärts getrieben.

 

Selbständigkeit ist der beste Erfolg für Freunde, für Geld oder Begünstigung, für einen vornehmen Stammbaum oder für sonstige Unterstützungen im Leben. Sie hat den Menschen über mehr Hindernisse und Schwierigkeiten weggeholfen und sie zu höheren Leistungen befähigt, als irgendeine andere Eigenschaft.

 

Die Ursache, warum so viele Menschen in der Welt gar keine Rolle spielen, liegt darin, dass sie sich scheuen, selbständig zu denken oder zu handeln. Sie fürchten beständig, irgendwo anzustoßen, sie strecken immer erst einen Fühler aus, um zu erfahren, was andere denken oder tun, und dann passen sie sich dem in irgendeiner Weise an. Und doch ist etwas in uns, das uns treibt, das Echte und Ursprüngliche zu schätzen, wie den Mann, der den Mut der eigenen Meinung hat und auf eigenen Füßen steht, während wir von selbst den gering schätzen, der sich nicht so zu geben wagt, wie er ist. Wir lieben den, der ohne Furcht vor dem Urteil andrer tut, was er für recht hält.

 

Es gewährt dem Menschen eine wunderbare Stärkung, wenn er überzeugt ist, dass er eine Aufgabe in der Welt hat, die nur ihm allein obliegt und die kein andrer ihm abnehmen kann, weil der andere selbst wieder eine bestimmte Rolle in dem großen Spiel des Lebens zu spielen hat. Und so muss sich jeder sagen: wenn ich die Rolle nicht spiele, die mir aufgetragen ist, dann fehlt etwas an dem großen Ganzen. Niemand wird etwas Rechtes und leistet etwas Rechtes, solange er nicht den Drang in sich fühlt, einen nur ihm bestimmten Platz in der Welt auszufüllen.

 

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