Streben

Aus Was dir gegeben, bring es zum Leben! - 8. Kapitel: Streben

 

Wer nicht aufwärts strebt, mit dem geht es bergab,

wer nicht fliegen will, der muss kriechen.


Wer zufrieden ist mit dem, was er erreicht hat,

für den gibt es kein Emporsteigen mehr.


Man muss sich wundern, wie viel Menschen nur so von einem Tag zum andern leben ohne Lebensplan und ohne ein Ziel ihres Strebens, ja ohne Streben überhaupt. Rings um uns sehen wir junge Leute auf dem Meer des Lebens ohne Steuer und ohne einen bestimmten Hafen als Bestimmungsort ziellos dahintreiben und ihre Zeit ganz planlos vergeuden. Sie lassen sich einfach von Wind und Wellen treiben. Wenn du einen solchen Menschen fragst, was er eigentlich vorhabe, worauf sein Streben gerichtet sei, so gibt er dir zur Antwort, er wisse es selbst nicht, er warte noch auf seine Gelegenheit, sich zu entscheiden.

 

Aber wenn ein Mensch ohne Plan und Ziel dahinlebt, wie kann er da erwarten, dass er irgendetwas anderes erreicht als ein zielloses Dasein? Ein klarer, fester Vorsatz übt einen gewaltigen Einfluss auf die ganze Lebensgestaltung aus; er fasst alle unsere Leistungen wie in einen Brennpunkt zusammen und gibt unsrer ganzen Arbeit eine bestimmte Richtung, so dass jeder einzelne Schritt wertvollen Fortschritt bringt.

 

Wer sich selbst nicht fest in die Hand nimmt und sich zwingt, das zu tun, was das beste für ihn ist – nicht das, was ihm das angenehmste ist – der ist nicht viel wert.

 

 Jeder Mensch muss sich selbst in eine strenge Schule nehmen. Er darf nicht still sitzen und die Hände in den Schoß legen, so oft es nur geht, er darf nicht im Bett liegen bleiben, bis er genug hat, er darf nicht bloß dann arbeiten, wenn es ihm danach zumute ist – er muss lernen, seiner Stimmungen Meister zu werden und zu arbeiten, egal ob es ihm gerade danach zumute ist oder nicht.

 

Wem im Leben nichts gelingen will, der ist meist einfach zu träge, um Erfolg zu haben. Er mag sich nicht anstrengen, er will nicht die Mühe auf sich nehmen, die der Erfolg nun einmal kostet. Er möchte es sich wohl sein lassen, er denkt, wozu arbeiten und sich mühen, warum nicht das Leben genießen?

 

Körperliche Trägheit, geistige Gleichgültigkeit, die Neigung, die Dinge gehn zu lassen und selber immer den Punkt des kleinsten Widerstandes zu suchen – das sind die Eigenschaften jener zahllosen Scharen von Menschen, die nichts erreichen.

 

 Eines der ersten Anzeichen dafür, dass es mit einem Menschen bergab geht, ist das ganz allmähliche Versickern seines Strebens. Keine Eigenschaft hat es mehr nötig, beständig überwacht und aufgeweckt, ja aufgepeitscht zu werden, als unser Streben, besonders wenn wir sowieso in einer Umgebung leben, die uns keinerlei Antrieb gibt, alle in uns liegenden Möglichkeiten zu entfalten. Alle Einflüsse, die dahin drängen, unser Streben lahmzulegen, müssen aufs sorgfältigste ferngehalten werden.

 

Wenn jemand eine zu große Gabe Morphium bekommen hat, so weiß der Arzt, dass der Schlaf, nach dem es ihn jetzt so stark verlangt, für ihn tödlich wäre, und tut alles, um ihn wachzuhalten. Die schärfsten und scheinbar grausamsten Mittel werden dazu angewandt, um den Schlaf fernzuhalten, aus dem es kein Erwachen gäbe. Ebenso ist es mit dem Streben: wenn es einmal eingeschlafen ist, so ist fast keine Möglichkeit mehr da, es wieder aufzuwecken.

 

Wenn wir die Menschen mit Uhren vergleichen wollen, so können wir sagen: es gibt eine ganze Menge mit prächtiger Ausstattung, bei denen scheinbar alles in Ordnung ist – und doch stehen sie still, denn sie haben keine Feder. Eine Uhr kann die bestgearbeiteten Räder und ein mit Edelsteinen besetztes Stundenblatt haben – wenn die Feder fehlt, so hat sie nicht den geringsten Wert. So kann ein junger Mensch die beste Ausbildung und die prächtigste Gesundheit haben – wenn ihm das Streben fehlt, so hilft ihn das alles nichts. Es gibt Menschen, die mit dreißig Jahren noch nicht wissen, welchen Beruf sie eigentlich ergreifen sollen, und die behaupten, sie wüssten nicht, wozu sie begabt seien.

 

Das rechte Streben zeigt sich oft schon sehr früh, verlangt aber dann auch gleich, dass man ihm Folge leiste. Wenn wir auf seine Stimme nicht hören, wenn es jahrelang keine Folge findet, dann hört es allmählich auf, uns zu beunruhigen, denn es geht mit ihm wie mit allen andern Fähigkeiten, die durch Nichtgebrauch entarten und verschwinden. Die Natur lässt uns bloß das, was wir beständig benutzen. Sowie wir aufhören, bestimmte Muskeln und Fähigkeiten zu benutzen, setzt die Entartung ein und selbst die Fähigkeit des Gebrauchs schwindet dahin.

 

Ein Streben, das keine Nahrung findet, ist wie ein Entschluss, dessen Ausführung man aufschiebt. Sein Anspruch auf Befolgung wird immer weniger gebieterisch, ganz wie die beständige Verneinung einer Begierde oder Leidenschaft allmählich zu ihrer Unterdrückung führt.

 

Wir sehen rings um uns Menschen genug, deren Streben tot ist. Sie sehen natürlich immer noch aus wie Menschen, aber das göttliche Feuer, das einst auch in ihnen brannte, ist erloschen; sie leben nicht mehr, sie sind bloß noch da. Sie sind zu nichts mehr nütze, weder für sich noch für andere. Es gibt keinen traurigeren Anblick als einen solchen Menschen.

 

Wie verdorben auch ein Mensch sei, so lange er noch Streben in sich hat, so lange brauchen wir die Hoffnung für ihn noch nicht aufzugeben. Wenn das aber wirklich ganz tot ist, dann ist es aus mit ihm.

 

Es ist sehr schwer, das Feuer des Strebens vor diesem Verlöschen zu bewahren, das Licht der Ideale rein und hell zu erhalten. Mancher betrügt sich damit, dass er meint, so lange er sich noch nach Erfüllung seiner Ideale sehne, so lange arbeite er auch an ihrer Verwirklichung. Aber man kann auch in einer bloß traumhaften Sehnsucht ohne wirkliche Leistung leben, und die führt ebenso gut zum Erlöschen dieses Feuers. Rechtes Streben muss starke Willenskraft, festen Entschluss, körperliche Energie und Nachhaltigkeit hinter sich haben, wenn es lebendig bleiben soll.

 

Die bloße Tatsache, dass du den unwiderstehlichen Drang und das hinreißende Streben verspürst, etwas zu tun, das die Billigung deines Gewissens und damit deines besseren Selbst findet, ist der Beweis dafür, dass du es tun kannst und dass du es ohne Zögern tun sollst.

 

Manche Menschen meinen offenbar, das Streben sei eine bleibende Eigenschaft; aber das ist ganz falsch. Es ist damit, wie mit dem Mana, das die Israeliten nach der Bibel in der Wüste fanden: soviel sie täglich brauchten, so viel war da, sie mussten es aber sofort verbrauchen. Als sie Gott nicht glaubten, dass es täglich wiederkommen werde, und versuchten, sich Vorräte davon zu sammeln, da fanden sie, dass es sich nicht bis zum nächsten Tag hielt.

 

Die Zeit, etwas auszuführen, ist dann da, wenn der Geist über uns kommt, wenn ein starker, deutlicher Entschluss da ist. Dieser Entschluss wird aber schwächer und undeutlicher, je länger wir seine Ausführung aufschieben. Wenn das Streben noch frisch, die Begeisterung noch warm ist, dann ist die Ausführung ganz leicht; haben wir sie aber erst ein paarmal aufgeschoben, so finden wir immer weniger Bereitschaft und Bereitwilligkeit in uns, die nötigen Opfer an Bequemlichkeit zu bringen. Deshalb lass dein Streben nicht abkühlen; nimm dich zusammen und geh auf das Ziel los, so lange das Eisen noch glüht.

 

Es gibt kaum etwas Entmutigenderes, als Leuten helfen zu wollen, die kein Streben haben, die nicht genug edle Unzufriedenheit besitzen, um herauszustreben aus ihrer gegenwärtigen Enge, denen es an Tatkraft zum Anfang und an Nachhaltigkeit zum Fortgang fehlt.

 

Wenn ein junger Mensch damit zufrieden ist, dass er nur einen kleinen Teil seiner Fähigkeiten benutzt und dass er seine Kraft sozusagen leer laufen lässt, so ist ihm wenig zu helfen. Wenn er kein Streben und keine Willenskraft hat, wenn er sich damit begnügt, sich von der Flut treiben zu lassen und immer nur am Punkt des geringsten Widerstandes einzusetzen, so ist gar kein fester Grund da, auf dem man bei ihm bauen könnte, und was davon von früher her etwa noch da ist, zerbröckelt allmählich vollends.

 

Nur der gewinnt im Leben, der nicht mit dem zufrieden ist, was er leistet, der entschlossen ist, es jeden Tag besser zu machen, der danach ringt, ein Ideal zu verwirklichen und das Mögliche zur Wirklichkeit zu machen.

 

Die Gefahr liegt für viele darin, dass ihre Ideale nicht hoch genug, ihre Hoffnungen nicht weitgehend genug, ihr Streben nicht kräftig genug ist. Wir müssen erst in die Höhe streben, ehe wir in die Höhe kommen. Wir können nicht emporsteigen, solange wir abwärts blicken. Man stelle sich vor, jeder Mensch wäre in der Lage wie etwa die Kinder reicher Eltern, die kein anderes Streben kennen, als sich das Leben so genussreich als möglich zu gestalten – wie lange würde es wohl dauern, bis ein aus lauter solchen Menschen bestehendes Volk wieder in die Barbarei hinunter sinkt?

 

Das was den Charakter und das Wesen unsrer höchsten Menschen von heute entwickelt hat, war die Tatsache, dass jeder im Volk beständig danach strebte, etwas höher zu steigen, eine etwas angenehmere Stellung zu bekommen, eine etwas höhere Bildung zu erwerben, sich sein Heim etwas besser zu gestalten, und sich die Kräfte zu verschaffen, die in höheren und besser bezahlten Stellungen frei werden.

 

Das Streben ist der Moses, der die Menschen durch die Wüste bis zur Grenze des gelobten Landes leitet. Gewiss sind Tausende und Millionen noch im äußersten Nachtrab des großen Heeres, so weit zurück, dass es für sie nicht mehr möglich zu sein scheint, das gelobte Land auch nur von Fern zu erblicken, aber selbst bei ihnen ist ein wirklicher Fortschritt gegen frühere Zustände vorhanden. Die Art und Stärke des allgemeinen Aufstrebens bestimmt den Rang eines Volkes auf der Stufenleiter der Kultur; an den Idealen der Einzelnen und des ganzen Volkes bemisst sich seine Stellung in der Gegenwart und seine Hoffnung für die Zukunft.

 

Eines der hoffnungsvollsten Zeichen unsrer Kultur ist die Höherentwicklung der Ideale. In jedem Stück des Lebens werden die Ideale unseres Strebens heute höher und reiner. Unser Fortschritt ist so rasch, dass man heute höhere Ideale, stärkeres Streben, größere Geisteskraft und energischere Anstrengungen braucht, um etwas zu erreichen, als früher.

 

Die Ideale durchdringen allmählich die ganze Menschheit und es ist zu hoffen, dass schließlich jeder zu dem Glück gelangt, auf das er Anspruch hat.

 

Nur Menschen, die nicht mehr wachsen, sind zufrieden mit dem, was sie erreicht haben. Wer wächst, der fühlt, dass er noch nicht vollständig, noch nicht fertig ist. Wer sich ausdehnt, der ist nie zufrieden mit dem Krebs, der ihn einschließt, sondern greift immer weiter aus. Nichts bringt so sicher vorwärts im Leben, als wenn man es sich zur andern Natur macht, immer in die Höhe zu streben, alles heute besser zu machen als gestern.

 

Eine große Hilfe dabei leistet uns das Zusammensein mit Menschen, die über uns stehen, die mehr Bildung und Erfahrung haben als wir. Wir wissen, wie schnell es mit einem Menschen abwärts geht, wenn es ihn in der Wahl seiner Freunde und seiner Vergnügungen abwärts zieht. Wenn sein Streben auch in diesen Dingen auf Höheres geht, dann kann ihm das Aufsteigen nicht fehlen.

 

Die Gewohnheit, nach hohen Zielen zu streben, ist eine aufs stärkste emporziehende Kraft. Alle geistigen Fähigkeiten erweitern sich, neue Kräfte werden wach, neue Möglichkeiten erheben sich aus dem Unbewussten, die sonst nie aufgetaucht wären. Das große „in uns“ wird wach, die unbegrenzten Möglichkeiten, die in unsrem Unterbewusstsein liegen, fangen an wirklich zu werden.

 

Niemand kann etwas Großes leisten, wenn ihn nicht ein hohes Streben erfüllt, das ihn alle Mühseligkeiten vergessen lässt, wenn ihn nicht eine Begeisterung durchweht, die ihm alles leicht macht und alle Wege ebnet. Wer an seine Arbeit geht wie der Galeerensklave von früher an das Ruder, an das er angeschmiedet war, oder wie ein müder Gaul an seine Last, die ihm viel zu schwer ist – der wird nicht viel leisten. Wo kein Eifer, kein Streben und keine Liebe zu der vorliegenden Arbeit ist, da kann bloß eine mittelmäßige oder gar keine Leistung herauskommen.

 

Liebe zu unsrer Arbeit ist das wirksamste Stärkungsmittel, das es gibt; Begeisterung lässt uns alle Gefahren und Hindernisse verachten. Wenn du spürst, dass dein Streben nachlässt, dein Eifer sich abkühlt und du an deiner Arbeit nicht mehr so warmen Anteil nimmst, dass du dich morgens auf sie freust und sie abends nur ungern liegen lässt, dann ist irgendetwas nicht in Ordnung. Vielleicht bist du nicht am richtigen Platz, vielleicht ist es Entmutigung, die deine Begeisterung und deinen Eifer zunichte gemacht hat – aber was auch der Grund sein mag, wenn du ungern an deine Arbeit gehst und sie immer mühevoller findest, dann tu alles, um das wieder in Ordnung zu bringen. Und es ist nicht so schwer, die Begeisterung wieder zu wecken, das nachlassende Streben wieder anzufeuern, wenn du dich mit ganzer Entschlusskraft daran machst und mit der Überzeugung, dass du es fertig bringst.

 

Wir sehen so oft, dass es mit den Menschen geht wie mit Bahnzügen. Viele stehen auf toten Gleisen, das Feuer gedämpft, das Wasser im Kessel abgekühlt, und dann wundern sie sich, dass die Schnellzüge an ihnen vorbeifliegen. Sie scheinen nicht zu wissen, dass gedämpftes Feuer und lauwarmes Wasser keine Schnellzugsgeschwindigkeit hervorbringen können. Sie erneuern ihre Schienen niemals, und dann jammern sie, dass sie nicht bis an ihren Bestimmungsort fahren können, dass es bei ihnen so viel langsamer geht, als auf dem Nachbargleis, wo der ganze Unterbau tadellos neu gemacht ist und mit den neuesten Maschinen und Wagen gefahren wird. Und wenn sie auf ihren veralteten Schwellen und Schienen entgleisen, dann sagen sie, sie hätten eben Unglück gehabt.

 

Fast alle die Menschen, die auf ein totes Gleis geraten oder ganz entgleist sind, haben es am rechten Streben fehlen lassen.

 

Der junge Mensch, der hungrig nach Bildung und Fortschritt strebt, auch wenn er noch so arm ist, der kommt fast immer vorwärts. Wer aber kein Streben hat, der hat auch keine Aussichten, und dem ist nicht zu helfen.

 

Vielleicht glaubst du, du seiest besonders übel dran mit deinen Aussichten, einmal etwas zu werden; wenn du aber an besseren und höheren Dingen Geschmack hast, wenn du vorwärts und aufwärts strebst, wenn du den Preis für das Vorwärtskommen in harter Arbeit zahlen willst, dann wird dir‘s auch gelingen. Du kommst so sicher in die Höhe, als der Keim durch die Erde dringt und das Licht erreicht.

 

Wir dürfen einen Menschen nie nach dem beurteilen, was er jetzt gerade tut; vielleicht ist das für ihn nur eine Stufe zu Höherem und Besserem. Wir müssen ihn nach seinem Streben und nach seinen Vorsätzen beurteilen, denn ein wirklich strebsamer Mensch betrachtet alles nur als Stufe und Durchgang zu seinem Ziel.

 

Es weht ein ganz bestimmter Dunstkreis um einen Menschen, der eine Zukunft hat; die Art, wie er seine Sache macht, die Energie, die Unternehmungslust, die er in seine Arbeit legt, alles das zeigt, was er noch zu erwarten hat. Dickens sagt einmal: „Und wenn du bloß deckwaschen musst, wasch es so, als wenn das Auge des strengsten Kapitäns auf dir ruhte.“

 

Bloße Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Stellung oder Arbeit ist freilich noch kein Beweis, dass einer auch imstande ist, darüber hinauszukommen; es kann auch ein Zeichen von Trägheit und Gleichgültigkeit sein. Wenn wir sehen, wie ein Mensch seine Stelle ausfüllt, so gut als es nur immer getan werden kann, wenn er alles, was er zu tun hat, bis zur völligen Vollendung fertig macht und stolz auf seine Arbeit ist, und wenn er nun trotzdem das Verlangen nach Höherem und Besserem hat, dann können wir sicher sein, er wird dieses Höhere und Bessere auch erreichen. Wir können über einen Menschen nicht urteilen, solange wir nicht sein Streben kennen; dieses, zusammen mit nachhaltiger Kraft, bestimmt seinen Platz auf der Stufenleiter der Menschen.

 

Viele Menschen, die draußen auf dem Land leben, kommen gar nicht in Berührung mit Maßstäben, an denen sie ihre eigenen Kräfte messen könnten. In ihrer Umgebung ist nichts, was sie veranlassen könnte, höher hinauf zu streben. Das Streben eines jungen Menschen, der in solcher Umgebung aufgewachsen ist, wird oft erst dann erweckt, wenn er in die Stadt kommt. Diese ist für ihn wie eine große Ausstellung; der fortschrittliche Geist alles dessen, was er sieht, berührt ihn wie ein elektrischer Schlag und löst alle seine schlummernden Fähigkeiten aus. Das ist einer der Vorteile, die das Leben in der Stadt bietet. Man kommt beständig mit andern in Berührung und hat deshalb fortwährend Veranlassung, zu vergleichen und sich an andern zu messen, und die Lust am Wettkampf wird geweckt. Man sieht die vielen Maschinen und Bauten, die großen Fabriken und Geschäfte und schließlich wundert man sich, warum man in seinem Dorf gar nichts hervorbringt. Und wer einmal etwas machen möchte und überzeugt ist, dass er es auch machen kann, dessen Kraft wächst ins Vielfache.

 

Eine häufig vorkommende Ursache des Misserfolges ist das allzu ungeduldige Streben. Viele Menschen haben nicht die Geduld, sich für ihre Lebensarbeit vorzubereiten, sondern bilden sich ein, sie könnten das mit einem Sprung erreichen, wozu andere Jahre der Arbeit brauchten. Ein solches Streben darf wohl übermäßiger Ehrgeiz genannt werden, alles wird dabei übereilt und erzwungen; aber eine solche Entwicklung kann nicht gleichmäßig sein, sondern sie bleibt einseitig. Beispiele dafür sind sehr häufig und es kommt dabei leider nur allzu oft vor, dass der Ehrgeiz blind macht gegen die Frage nach Gut und Böse. Es ist ein trauriger Anblick, wenn ein Mensch das Opfer solchen übermäßigen Ehrgeizes wird und um jeden Preis reich oder berühmt werden will, ohne Rücksicht auf die Opfer, die es kostet. Und es ist in solchem Zustand sehr schwer, die Grenzen von Gut und Böse noch deutlich zu sehen; viele schrecken da nicht einmal vor einem Verbrechen zurück.

 

Der bloße Wunsch zu tun, wie es in dem griechischen Vers heißt: Immer der Erste zu sein und vorzustreben den andern, kann zu einer gefährlichen Macht in uns werden und unsern Charakter aufs tiefste schädigen.

 

Soviel Ehrgeiz, soviel wirkliches Streben darf allerdings jeder Mensch haben, dass er sich wünscht, etwas Besonderes und Persönliches zu leisten, das ihn aus der bloßen Mittelmäßigkeit heraushebt und über solche stellt, die gar kein Streben und gar keinen Ehrgeiz besitzen. Es ist durchaus in Ordnung, wenn jeder so hoch steigen will, als er kann; er darf nur die Grenzen von Gut und Böse dabei nicht außer acht lassen.

 

Es handelt sich immer darum, dass du dich aufwecken und aufwärts ziehen lässt; woher du die Anregung und die Begeisterung dazu nimmst, das ist deine Sache, und dazu darf dir jedes Mittel recht sein. Es kann ein Gespräch mit einem Menschen sein, zu dem wir Vertrauen haben, oder ein ermunterndes Wort von ihm, oder wir sehen, dass jemand an uns glaubt und uns vertraut, wo andere das nicht tun. Vielleicht macht uns das im Augenblick noch nicht einmal so großen Eindruck, aber trotzdem kann es einen Wendepunkt in unsrem Leben bedeuten. Tausende haben beim Lesen eines guten Buches oder eines begeisternden Aufsatzes zum ersten Mal erfahren, was in ihnen steckt, und wären ohne das niemals zur Klarheit über ihre eigene Leistungsfähigkeit gekommen. Alles, was uns dazu verhilft, ist von unschätzbarem Wert für uns.

 

Wähle dir nur solche Menschen zu Freunden, die einen beständigen Antrieb für dein Streben bilden, die die Begierde in dir wecken, etwas Rechtes zu leisten und zu werden. Ein derartiger Freund ist mehr wert als ein Dutzend andere, die dir diesen Dienst nicht leisten. Halte dich stets zu solchen, an denen und mit denen du dich begeistern kannst. Es ist ein großes Unglück, wenn die Erkenntnis dessen, was wir leisten könnten, und der Antrieb, es zu leisten, uns erst so spät kommt, dass es zu spät ist; alles kommt darauf an, dass dies so früh geschieht, dass wir noch alles aus unsrem Leben machen, was und möglich ist. Man kann sagen, die meisten Menschen sterben, ohne dass sie mehr als den kleineren Teil ihrer Fähigkeiten angewandt und ausgebildet haben. Sie haben wohl hie und da ein kleines Stück Land angebaut, aber das ganze große Feld ihrer Möglichkeiten liegt noch brach, und ganze Bergwerke voll wertvoller Eigenschaften sind noch unerschlossen.

 

Halte doch einmal mit dir selber genaue Abrechnung. Bist du unzufrieden mit deiner Stellung und deiner Arbeit, glaubst du, dass du Höheres leisten könntest, so suche zu entdecken, woran es eigentlich fehlt und was es ist, das dich drunten hält. Gehe auf Entdeckungsreisen in deinem Innern und frage dich immer wieder: Warum leisten andere so Außerordentliches und ich immer bloß Mittelmäßiges? Wenn andere es können – warum kann ich es nicht?

 

Bei solchen Entdeckungsreisen kannst du ganze Schächte voll Gold finden, die du nie in dir vermutet hättest, Möglichkeiten und Kräfte, von denen du dir nicht hast träumen lassen und die dein ganzes Leben umgestalten, wenn du sie recht benutzt.

 

Wenn wir zu lange in einer bestimmten Stellung und Arbeit bleiben, so besteht die große Gefahr, dass wir anfangen, rein gewohnheitsmäßig zu arbeiten, gestern und heute und morgen und übermorgen und immer so fort; dadurch verkümmern dann die unbenutzten und ungebrauchten Fähigkeiten, und schließlich sind wir überzeugt, wir könnten überhaupt nichts anderes mehr tun.

 

Der Gebrauch macht jedes Glied stärker, der Nichtgebrauch lässt es verkümmern, und so verlieren wir schließlich die Möglichkeit, unsere Kräfte richtig abzuschätzen.

Mattes und schlaffes Streben ist geradezu ein Verbrechen, denn es lässt jede andere Eigenschaft am Ende ebenso matt und schlaff werden, es zerstört die Fähigkeit zum Handeln und schließlich geht es mit dem ganzen Menschen bergab. Wir müssen aufwärts streben, sonst können wir nicht aufwärts steigen; wer nicht vorwärts kommt, kommt zurück und wer nicht emporsteigt, der sinkt hinab.

 

Aufs bündigste fasst das Wort Goethes die Stärke und die Richtung unseres Strebens zusammen:

„Strebe hoch empor, aber die Liebe gebe deinem Streben die Richtung."

 

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